The Tangent – Nachgefragt bei Andy Tillison – Interview

Passend zur Veröffentlichung des neuen Album Auto Reconnaissance hatte ich die Gelegenheit, dem Mastermind und Kopf der Progressive Rock Band The Tangent, Andy Tillison, ein paar Fragen zur Entstehung und zum Konzept des Albums zu stellen. Obwohl Andy Tillison Deutsch versteht und spricht, wurde das Interview auf Englisch geführt.

The original interview in english can be found HERE


Ingo (Soundmagnet.eu): Hallo und danke nochmal, dass du dir die Zeit nimmst mir ein paar Fragen zu beantworten. Was war die ursprüngliche Idee hinter Auto Reconnaissance? Für mich reflektiert es die aktuelle Covid-19 Situation zumindest indirekt. Siehst du das ähnlich?
Andy Tillison: Ja, du hast recht. Seit unserem dritten Album finden sich Elemente von politischem und sozialen Bewusstsein in der Musik von The Tangent wieder. Das ist etwas, was uns von anderen Bands unterscheidet und ein Stück weit eigene Identität verleiht. Das mag nicht jedem gefallen, aber vielen gefallen wir gerade deswegen. Auf Youtube haben wir einen anonymen Follower, der jeden wissen lässt, wie sehr er unsere Texte hasst. Das finde ich lustig. Es gibt so viele tolle Musik auf der Welt, die ihm gefallen würde, und stattdessen verschwendet er seine Zeit damit unsere zu hassen. Und anderseits haben wir in der australischen Regierung einen Fan mit der Ansicht, dass mehr Leute jene Umstände ansprechen sollten, wie wir es tun.

Also viele Meinungen und keine Antworten, sehr charakteristisch für die Welt „post Internet“. Wir geben keine Antworten, wir stellen Fragen und hoffen, dass die Menschen jene Fragen auch stellen. „Auto Reconnaisance“ ist ein weiteres unserer Alben, die ein soziales Bewußtsein herausfordern. Es geht dieses Mal weniger um Politik, sondern mehr um Vergebung, Verständnis und das bessere Kennenlernen seiner eigenen Persönlichkeit. Und ich wollte ein Album kreieren, dass nicht vorwurfsvoll mit dem Finger auf andere zeigt, sondern zur Zusammenarbeit einlädt, gegensätzliche Meinungen akzeptiert und damit ein Fundament schafft, gemeinsam etwas Konstruktives zu schaffen. Jenen ungarischen Typ, der meint wir schreiben „liberalen Bullshit“ werden wir wohl nicht erreichen.

Ingo: Hat die aktuelle Covid-19 Situation die Produktion von Auto Reconnaissance erschwert? Vom Zeitrahmen her vermute ich mal, dass die Produktion selbst schon vor den Lockdowns stattfand?
Andy Tillison: Tatsächlich wurde das Album schon vor den Lockdowns aufgenommen, allerdings während dieser gemixt. The Tangent waren schon immer eine Band, die Alben über große Distanzen produziert haben. Schon in den 1990ern, mit Parallel or 90 Degree (Anm. eine Vorgängerband von The Tangenthaben wir Alben übers Internet aufgenommen, wir haben da gewissermaßen Pionierarbeit geleistet, und das erste The Tangent Album wurde damals aufgenommen, bevor wir uns überhaupt zum ersten Mal richtig trafen. In der Hinsicht war also auch bei Auto Reconnaissance alles wie sonst. Wobei natürlich viele Mitglieder der Band große Verluste zu beklagen hatten, durch ausfallende Verdienste, abgesagte Touren und andere Dinge.

Ingo: Nebenbei, du bist ein großartiger Erzähler von Geschichten! Haben die Storys und Texte auf Auto Reconnaissance eine persönliche Bedeutung für dich? Magst du über deren Intention berichten?
Andy Tillison: Danke für das Kompliment! Geschichten durch die Musik zu erzählen ist ein wichtiger Bestandteil von The Tangent. Da wurden wir von Bands wie den alten Genesis, Al Stewart, Roy Harper, Peter Hammill oder auch im abstrakteren Sinne Yes beeinflusst. Ich mag es Geschichten vom eigenen Erleben her zu erzählen, wie in der Jinxed In Jersey/Lost In London/Perdu Dans Paris Reihe, oder von anderen Menschen und deren Erfahrungen, wie z.B. von den Piloten aus dem Zweiten Weltkrieg in den In Earnest Songs, oder jene übers Mittelmeer Flüchtende, wie wir es auf dem „The Slow Rust Of Forgotten Machinery“ taten.

Ingo: Was war beim Aufnehmen von Auto Reconnaissance anders im Vergleich noch zu Proxy oder The Slow Rust Of Forgotten Machinery?
Andy Tillison: Das Album ist jenes, bei dem es am meisten Spaß gemacht hat es zu machen. Einer der Gründe war, dass es das vierte Album in Folge mit Jonas, Luke, Theo und mir sowie das zweite von Steve mit der Band war. Wir haben schon einige Zeit mit Touren verbracht und sind mehr und mehr zu Freunden geworden, die zusammen lachen und scherzen können und es genießen Zeit miteinander zu verbringen. Dieser Aspekt der Band hat sich mehr und mehr verstärkt und ist aufgeblüht. Es macht wirklich einen großen Unterschied, gemeinsame Erinnerungen teilen zu können.

Ich habe wirklich eine großartige Beziehung zu allen Musikern in der Band. Und obwohl wir in der allgemeinen Wahrnehmung unser Line-Up ständig ändern, arbeiten vier von fünf Mitgliedern mittlerweile mindestens 10 Jahre zusamen und drei von uns sogar schon seit mehr als 15 Jahren. Viele kamen und gingen, dennoch gab die ganze Zeit über Konstanten. Jonas Reingold ist sozusagen der Fels, auf dem The Tangent fußt. In den frühen Tagen war er derjenige, der am stärksten auf The Tangent fokussiert war, zusammen mit Roine Stolt in den ersten zwei Jahren. Und ich denke, Jonas‘ Entscheidung nach den ersten zwei Alben zu bleiben war der Moment, wo The Tangent eine richtige funktionierende Band bildeten.

Ja, Jonas und ich sind musikalisch unterschiedliche Typen, aber ich persönlich denke, dass jeder von der Art und Weise wie der andere arbeitet, schreibt und spielt profitieren kann. Jonas (und Luke) haben ein gewaltig größeres musikalisches Wissen als ich, beide haben eine hochqualifizierte musikalische Ausbildung, wohingegen ich aus der Punk Richtung komme und nicht einmal Musik lesen kann. Aber beide haben mir sehr viel mehr über Musik beigebracht als ich aus jeder Institution ziehen könnte, und ich schätze jedes Wort von ihnen sehr hoch – auch wenn ich es nicht immer und zu jeder Zeit verstehe!

Ingo: Die Mischung aus Elementen des klassischen Progressive Rock und neuen Elementen wie Pop oder R’n’B ist sehr interessant. Ich mag diesen sehr reichhaltigen Mix und finde, dass sie sehr gut miteinander harmonieren.
Andy Tillison: Ich empfinde es zu einschränkend, mich auf ein Genre zu begrenzen. Der Progressive Rock der 1970er war großartig, aber ich möchte mich nicht immer ausschließlich auf ihn berufen. Vielmehr nutze ich die gleiche Philosophie, die sich auch dieser Bands bedienten. Man kann alles nehmen, also Klassik, Folk, Filmthemen, Werbejingle und Elektronik und etwas neues daraus machen. Und in 2020 können wir uns sehr viel mehr Stilmittel bedienen als noch 1979. Sachen wie Punk, Djent, Thrash, Ibiza Dance, House, Trance, R & B, Hip Hop, Brit Pop, Trap oder Dubstep sind dort draußen und sie zu ignorieren würde deren eigene Philosophie verraten. Also lassen wir unseren Gefühlen freien Lauf und schaffen Musik in einer progressiven Art und Weise, mit einem größeren Pool an Einflüssen um daraus Inspiration zu ziehen.

Ingo: Sind dir besonders positive oder auch negative Momente im Gedächtnis verblieben, die du während der Produktion von Auto Reconnaissance erlebt hast?
Andy Tillison: Ich denke, die Produktion war eine wundervolle Erfahrung. Ich spreche hier von der Produktion und dem Sound, Luke Machin hatte nun zum zweiten Mal ein Album von uns produziert und er hat phantastische Arbeit geleistet. Wir haben wirklich gut zusammengearbeitet, und obwohl wir beide als Produzenten genannt werden, war es Luke der für den finalen Mix gesorgt hat. Ich denke, durch das wiederkehrende Durchspielen verschiedenster Ideen ist Auto Reconnaissance das bislang bestklingendste The Tangent Album. Die Produktion ist transparent und dennoch weitgestreut und auf jedes betrachtenswerte Detail fokussiert. Anstatt dass ich die Produktion aus meinen Händen gegeben habe, hat Luke dafür gesorgt, dass sie umso mehr in meinen Händen verblieb und hat meine Wünsche berücksichtigt und wahr werden lassen. Er brachte seine eigenen Ideen mit ein und entwickelte den generellen Sound, hatte aber immer mein vollstes Vertrauen und hat meine Vision für dieses Album realisiert. Schaut genau hin, so wird es gemacht. ZUSAMMEN zu arbeiten ist der beste Weg.

Ingo: Vor einiger Zeit hattest du ein paar ernsthafte gesundheitliche Probleme. Zu unserem Glück klingst du sehr frisch und gesund auf Auto Reconnaissance und auf seinen Vorgängern. Hatten diese Probleme bei der aktuellen Produktion noch irgendeinen Einfluss auf dich?
Andy Tillison: Aktuell fühle ich mich sehr gesund um ehrlich zu sein. Ich bin nun 61, aber immer noch körperlich sehr aktiv (ich habe gestern ein 20 Meter hohe Stahlgerüst an meinem Haus errichtet!). Ich versuche neuen musikalischen Ideen und Stilen so offen wie möglich gegenüber zu stehen und gehe so oft es geht spazieren. Ich spüre keine Nachwirkungen meines Herzinfarkts von 2015. Jegliche pharmazeutische Medikation habe ich abgeschlossen, ich lebe nun vegetarisch und habe das Rauchen aufgegeben. Ich denke, das hat sehr dazu beigetragen, dass meine Stimme frischer klingt. Normalerweise mag ich es nicht, meine eigene Stimme auf Platten zu hören (und so geht es anderen Leute ebenfalls!). Dieses Mal gibt es eine klare Verbesserung. Also besteht Hoffnung für die Zukunft!

Ingo: Wie sieht es mit Touraktivitäten aus? Covid-19 hat diese aktuell ja sehr erschwert, hast du oder habt ihr für dieses oder nächstes Jahr etwas geplant, um Auto Reconnaissance der Öffentlichkeit zu präsentieren, mit oder ohne Einschränkungen?
Andy Tillison: Wir haben aktuell keine Pläne zu touren. Es ist zu früh, konkret zu sagen, was wir tun werden. Natürlich wollen wir so bald wie möglich live spielen. Aber es gibt eine Menge Dinge vorher zu regeln, Tut mir leid, mehr kann ich zu diesem Zeitpunkt nicht sagen.

Ingo: Darf ich dich über deine Meinung zu Streamingdiensten wie Spotify und Co. befragen? Denkst du, sie sind eine gute Chance, um die Reichweite eurer Musik zu erhöhen? Sehr viele Künstler denken, dass diese Dienste sie beklauen. Was denkst du darüber?
Andy Tillison: Ich denke, dass die Idee von Spotify an sich gut ist. Es ist für den Konsumenten großartig, aber furchtbar für den Künstler. Freies Essen wäre ebenfalls großartig, aber die Farmer und Bauern würden es nicht machen wollen. Spotify bieten der Welt mehr oder weniger die komplette Geschichte an aufgenommener Musik für 10 Euro im Monat, was für jeden ersichtlich ein Schnäppchen ist ohne eine Basis für zukünftige Musik zu schaffen. Wenn Spotify wirklich ein Interesse hätte neue Musik zu unterstützen, müssten sie den Künstler mehr in den Fokus stellen. Im Moment lachen sie uns Schaffende eher aus. Ich denke, dass sie uns bestehlen, ja natürlich. In einer Art und Weise, die vollkommen legal ist.

Ingo: Für mich persönlich ist Vinyl das perfekte Medium für eure Musik. Bist du ähnlicher Meinung? Eure ersten Alben sind ausschließlich auf CD veröffentlicht worden, wird es Wiederveröffentlichungen auf Vinyl geben? Ich würde es sehr begrüßen!
Andy Tillison: Ich ebenfalls. Man wird sehen, am Ende muss das InsideOut / Sony entscheiden. Wenn wir zukünftig stärker in den Charts präsent sind, machen sie es vielleicht. Ich mag das Gefühl und das Zeremonielle von Vinyl, eine sehr befriedigende Art und Weise unsere Musik zu genießen. Meiner Meinung nach ist die CD allerdings der originaltreueste Weg. Ich schreibe und nehme Musik mit der CD als Zielmedium auf. Was du auf CD hörst, ist genau das, was wir gehört haben als wir das Album vollendet haben. Das hörst du bei Vinyl nicht. Wenn du es auf Bose Quiet Comfort Kopfhörern hörst, dann hörst du genau das, was ich gehört habe als ich Luke sagte „Wir sind fertig!“. Das ist Fakt, keine Meinung. Wenn dir die Vinyl mehr zusagt, ist das für mich absolut in Ordnung. Aber das ist halt Meinung, kein Fakt. Beides ist wichtig, und beide brauchen einander.

Ingo: Was glaubst du wird auf euren nächsten Album anders sein? Hast du neue Ideen im Allgemeinen oder neue Elemente im Hinterkopf?
Andy Tillison: Wir haben Ideen für ein Album mit einer Einschränkung, die wir darauf platzieren. Mit anderen Worten, wir werden ein Album ohne __________ machen. Das wird sicher interessant sein, es zu spielen, und erst recht es anzuhören.

Ingo: Hast du irgendwelche Pläne außerhalb von The Tangent? So etwas wie Soloalben vielleicht?
Andy Tillison: Ich habe einen phantastische Zeit mit meinen Solosachen. Eine erfolgreiche Solokarriere habe ich nicht, also habe ich da nichts zu verlieren. Ich kann das machen, was ich will, wann ich es will und es macht sehr viel Spaß. Normalerweise ist es unstrukturierter als The Tangent, manchmal auch nicht. Ich mag das Zeug. Und ja, davon wird es mehr in 2020 geben!

Ingo: Danke nochmal für deine Zeit, und alles Gute!
Andy Tillison: Ich danke dir für deine. Ich spreche zwar Deutsch, aber nicht so gut um deine Fragen auf deutsch zu beantworten, tut mir leid. Aber vielen Dank, Grüssgott und Aufwiederschreiben (sic!).


Außerdem auf Soundmagnet.eu
Interview – TAV – Nachgefragt bei TAV
Album Review – The Tangent – Auto Reconnaissance
Kolumne – Quer durch die Playlist der letzten 20 Jahre

Cooler Artikel? Diskutiere mit auf Facebook!
[Total: 1 Average: 5]