Revisited – ein Album von damals ins heute geholt – Kolumne
In der Kolumne Revisited wird ein Album von damals ins heute geholt. Was bei Release fesselte, wird hier kritisch beäugt und vielleicht sogar gänzlich neu interpretiert.
Manche Alben sortiert man im Laufe der Zeit für sich neu ein, die Gründe sind so vielfältig wie Rockmusik an sich. Ich bin seit meinen frühen Jugendtagen Fan der kanadischen Progressive Rockband Rush. Spätestens ab ihrem dritten Longplayer Caress of Steel von 1975 haben die drei (Geddy Lee – Bass und Gesang, Alex Lifeson – Gitarre, Neil Peart – Schlagzeug und Perkussion) in gleichbleibender Besetzung einen Klassiker nach dem anderen herausgebracht, mit dem Höhepunkt Moving Pictures von 1981 und einer leicht schwächelnden Phase in den 90ern (Roll the bones, Counterparts, Test for echo).
Die Zutaten sind meist dieselben: Groovender Bass, markanter Gesang mit Fistelstimme, druckvoll/exaktes sowie abwechslungsreiches Schlagzeugspiel, intelligente Lyrics auf Schriftstellerniveau sowie melodiöses, songdienliches Gitarrenspiel. Mittlerweile ist Rush am Ende ihrer Karriere angelangt, sie haben 2015 eine Abschiedstour unternommen, und vor mittlerweile schon sieben Jahren ihr letztes Studioalbum Clockwork Angels herausgebracht.
Damals habe ich das Album sehr euphorisch aufgenommen, weil die Zutaten stimmten, zudem war es das erste Konzeptalbum der Band. Die Hintergrundgeschichte wurde ausserdem in Romanform ausgeweitet und als Buch veröffentlicht, die Gestaltung des Gesamtkonzepts im Steampunk Design, auch der Musikvideos, gefiel mir sehr.
Nun, die Grundeuphorie über Clockwork Angels hat sich mittlerweile etwas gelegt, und für mich hat das Album insgesamt den „Test of time“ nicht bestanden. Die Produktion ist mir zu dicht, zu muffig. Das Schlagzeugspiel von Neal Peart, früher federleicht, aber dennoch exakt und druckvoll, wirkt speziell auf diesem Album oft klobig. Der Gesang von Geddy Lee, früher schon oft kontrovers diskutiert, lässt auf dem Album schon erahnen, was sich dem Fan in den Livedokumenten der Clockwork Angels Tour sowie der letzten Live DVD/Bluray R40 schmerzvoll präsentiert.
Geddy Lee versucht auf verschiedene Art und Weise seinen mittlerweile stark eingeschränkten Stimmumfang auszugleichen, was ihm meist nicht gut gelingt. Und letzten Endes ist für mich das Schwierigste an Clockwork Angels, dass viele Songs einfach nicht zünden, und mit der Zeit sogar leicht nerven. Natürlich betrifft es nicht das wunderbare The Garden, oder das retrospektive Headlong Flight. Leider sind mir die Melodien von Songs wie Carnies, Seven Cities of Gold oder Wish You Well oft zu gefällig und lassen obgleich der teilweise ruppigen Produktion an Kanten und Wiedererkennungswert missen.
Clockwork Angels ist eines der wenigen Alben von Rush, die bei mir im Laufe der Jahre leider nicht gewinnen konnten. Rush haben sich mittlerweile aufgelöst, weil alle drei Musiker ihre Grenzen erfahren haben und aufhören wollten, bevor sie hörbar werden. Für mich waren und sind sie schon lange mehr als deutlich hörbar gewesen.