Whitechapel – Nachgefragt bei Alex Rüdinger – Interview

Whitechapel sind eine Institution im US-amerikanischen Metal. Das neue Album Kin ist aber ein wenig anders geraten als seine Vorgänger. Schlagzeuger und „Neuzugang“ Alex Rüdinger hat uns einige Fragen zum Album beantwortet. Außerdem erzählt er uns, was er zu Internet-Trollen sagen würde, welche Verbindung er zu Joey Jordison hat und wie Schlagzeuger sich am besten fit halten können.

You can find the original interview in english HERE.


Alex_Rüdinger_Live
Foto Credit: Alicia Hauff

Markus (Soundmagnet.eu): Hallo und danke für das Interview. Das neue Album von Whitechapel heißt Kin und ist, wie sein Vorgänger, ein sehr erzählerisches Album. Kannst du uns mehr über den Entstehungsprozess und die Geschichten sowie Konzepte erzählen, die das Album als Gesamtes ausmachen?
Alex (Whitechapel): Textlich ist Kin definitiv eine Fortsetzung von The Valley – die beiden Alben teilen viele Themen und Konzepte. Um ehrlich zu sein, kann ich hier nicht allzu viel Einblick geben – das ist eher Phils Domäne, und es ist sehr persönlich für ihn (Sänger Phil Bozeman ist gemeint – Anm. der Red.). Aber konzeptionell geht es definitiv um Phils Lebenserfahrungen – das Aufwachsen ohne seine Eltern und die mentalen Orte, an die ihn das im Laufe der Zeit geführt hat.
Obwohl ich jetzt mit der Band zusammen bin, war ich schon vorher ein Fan, und ich kann ehrlich sagen, dass Phil einer der einzigen Metal-Sänger ist, dessen Texte und Performance mir buchstäblich Gänsehaut bereiten. Es ist ein Beweis dafür, wie persönlich The Valley und Kin für ihn sind – diese Art von Emotionen bekommt man nur, wenn das wirklich der Fall ist. Ich bin mir sicher, dass eine spezifischere Antwort hier wünschenswert gewesen wäre, aber ich denke wirklich, dass Phil die einzige Person ist, die in der Lage ist, über die Erzählung und die Konzepte in der Tiefe zu sprechen – es ist einfach so persönlich für ihn.

Über die Weiterentwicklung von Whitechapel

Markus: Das Album verbindet Aggressivität, Melancholie und Nachdenklichkeit zu einem großen Ganzen, ruhige und harte Passagen und Songs wechseln sich ständig ab. Bewusste Herangehensweise oder einfach unbewusste Weiterentwicklung eures Sounds?
Alex: Ein bisschen von beidem, denke ich. Generell sind alle sehr experimentierfreudig und wollen den Sound der Band erweitern, ohne dabei die Wurzeln zu vernachlässigen. Aber da wir alle auf der gleichen Wellenlänge sind, denke ich, dass sich das ganz natürlich ergibt.
Wir haben auch alle Phils fortgesetzte Erkundung seiner cleanen Stimme geliebt; ich persönlich denke, dass er phänomenale Cleans hat, und als solches bin ich dafür, dass er sie mehr und mehr einsetzt. Da jeder weiß, dass diese Art von Sound in der Band jetzt möglich ist, haben die Jungs unbewusst angefangen, ein bisschen mit diesem Gedanken zu schreiben. Um also ein bisschen direkter zu antworten: Wir sind uns alle der Veränderungen sehr bewusst, aber es ist eher eine natürliche und unbewusste Entwicklung.

Ich würde Whitechapel als etwas allgemeineres klassifizieren, wie Progressive Metal oder so ähnlich.

Markus: Deathcore, Metalcore, Modern Death Metal und so weiter – es gibt so viele Genre-Namen da draußen. Ich habe das Gefühl, dass euch solche Zuschreibungen aber nach wie vor überhaupt nicht interessieren. Wie würdest du selbst den Sound von Whitechapel im Jahr 2021 beschreiben?
Alex: Haha, ja – in der Welt des Metal gibt es keinen Mangel an Subgenre-Bezeichnungen. Auch wenn ich das neueste Mitglied von Whitechapel bin, kann ich mit Sicherheit sagen, dass sich keiner von uns viel darum schert.Ich weiß, dass die Wurzeln der Band in dem liegen, was die Leute Deathcore nennen, aber selbst als ich sie damals als Fan hörte, habe ich nie viel darüber nachgedacht. Für mich waren sie einfach eine knallharte Metal-Band, haha. Heutzutage, vor allem mit der Weiterentwicklung des Sounds der Band, würde ich sie einfach als etwas allgemeineres klassifizieren, wie Progressive Metal oder so ähnlich.

Veränderung und Stillstand

Markus: Euer Sänger Phil Bozeman schlägt nun öfter ruhigere und klarere Töne an, was auch für die gesamte Band gilt. Innovationen bringen ja automatisch Nörgler, Internet-Trolle und vielleicht auch enttäuschte Fans älterer Alben auf den Plan. Gibt es etwas, was du diesen Leuten sagen möchtest?

Sicherlich hat sich der Sound weiterentwickelt, vor allem gesanglich. Aber ich glaube nicht, dass sich der Sound so sehr verändert hat, dass man die Band nicht mehr wiedererkennt.

Alex: Nicht wirklich. Ich denke, ich verstehe beide Seiten – die Leute hängen an einer Band wegen einer Sache, und wenn die Band plötzlich etwas ändert, mögen sie das nicht. Aber ich denke, ich würde die Leute einfach dazu auffordern, sich daran zu erinnern, dass es sich um Kunst handelt, die sich immer weiterentwickelt und verändert. Ganz zu schweigen davon – wenn man nur auf brutalen Deathcore steht, gibt es keinen Mangel an solchem Material im Katalog von Whitechapel. Also hört es euch an und genießt es, wirklich!
Es ist ein bisschen ein Zwiespalt – wenn die Band alle paar Jahre dasselbe Album veröffentlichen würde, das heißt stilistisch und genremäßig identisch, würden sich die Leute wahrscheinlich auch darüber beschweren, dass wir nur altes Material und Ideen wieder aufwärmen. Ich denke, man kann es nicht jedem recht machen. Aber ich muss auch allen Trollen sagen: Sicherlich hat sich der Sound weiterentwickelt, vor allem gesanglich. Aber ich glaube nicht, dass sich der Sound so sehr verändert hat, dass man die Band nicht mehr wiedererkennt. Es gibt auch immer noch jede Menge harte und brutale Sachen!

Über die Aufnahmen zum Album „Kin“

cover Whitechapel - KinMarkus: Seit 2019 unterstützt du Whitechapel bei Live-Shows am Schlagzeug. Kin ist das erste Studioalbum, auf dem du zu hören bist. Wie war es für dich, zum ersten Mal als Bandmitglied ein Album mit den anderen Jungs aufzunehmen?
Alex: Es war großartig! Ich kenne inzwischen alle sehr gut, so dass nichts daran für mich stressig oder unangenehm war. Es hat auch geholfen, dass wir mit dem Produzenten Mark Lewis gearbeitet haben. Whitechapel hat mit Mark schon bei mehreren früheren Alben zusammengearbeitet, also hatten wir alle eine enge persönliche Beziehung zu ihm. Auch ich habe bereits mit Mark zusammengearbeitet; Anfang 2010 habe ich mit ihm das Schlagzeug für das selbstbetitelte Album Conquering Dystopia eingespielt. Wir wurden schnell gute Freunde und ich bin seitdem regelmäßig mit ihm in Kontakt geblieben. Die Arbeit mit Mark war also super angenehm und natürlich für mich, genau wie für alle anderen. Insgesamt fühlte sich der Aufnahmeprozess sehr natürlich an und war ziemlich stressfrei und angenehm!

Tour-Pläne und Covid-19

Markus: Ich nehme an, dass Covid-19 auch eure Tourpläne ordentlich durcheinander gebracht hat. Können eure europäischen Fans trotzdem auf einige Live-Gigs im Jahr 2022 hoffen – soweit man das in der aktuellen Situation überhaupt vorhersagen kann?

Ich kann es kaum erwarten, wieder nach Europa zu kommen. Ich liebe es da drüben.

Alex: Haha, ja – die Pandemie hat die Dinge für uns und alle tourenden Künstler sicherlich kompliziert gemacht. Leider kann ich im Moment nicht genau sagen, wann wir wieder nach Europa kommen werden.
Internationales Reisen ist bei dem derzeitigen Klima immer noch sehr unsicher. Was ich sagen kann, ist das: Sobald es für uns möglich ist, nach Europa zurückzukehren, werden wir es tun! Hoffentlich ist das im Jahr 2022 möglich, Daumen drücken!!! Ich kann es kaum erwarten, wieder nach Europa zu kommen. Ich liebe es da drüben.

Whiskey, Maryland und Lokalhelden

Markus: Euer Heimatstaat Tennesse ist in Mitteleuropa vor allem für seinen Whiskey bekannt, aber weniger für seine Musik. Kannst du uns ein paar Bands von dort nennen, die wir uns anhören sollten?
Alex: Obwohl Whitechapel aus Tennessee stammt, bin ich das einzige Mitglied, das nicht aus Tennessee kommt. Ich komme ursprünglich aus dem Bundesstaat Maryland und wohne dort – etwa acht Autostunden nördlich von Knoxville, Tennessee. Ich habe noch nie in Tennessee gelebt, kann also nicht viel über Bands aus dem Großraum Knoxville sagen, weil ich sie nicht wirklich kenne. Aber Tennessee ist die Heimat einer der größten Musikstädte der Vereinigten Staaten – Nashville. Es gibt also keinen Mangel an phänomenalen Talenten und Künstlern!

Joey Jordison als großes Vorbild

Markus: Nun zu einer persönlichen Frage: Ich habe gelesen, dass für dich alles mit Slipknot begann und dass Joey Jordisons Schlagzeugspiel dich sehr beeinflusst hat. Wie hat er dich konkret beeinflusst?
Alex: Auf jeden Fall – Joey und Slipknot haben mich enorm beeinflusst. Man kann mit Sicherheit sagen, dass ich ohne sie nichts von dem machen würde, was ich heute mache. Vor allem Joeys Stil war anders als alles, was ich zu der Zeit gehört hatte und er ist auch heute noch aktuell – er ist der Hammer! Es hat mich damals auch umgehauen, dass jemand so etwas Technisches am Schlagzeug spielen und trotzdem Erfolg im Mainstream haben konnte. Seine Arbeit ist sehr geschmackvoll und hat mich dazu gebracht, mein Handwerk immer wieder zu verbessern.

Es war wirklich ein verheerender Verlust, sowohl für die Schlagzeugwelt als auch für die Metal-Welt. Er mag weg sein, aber er wird sicherlich nicht vergessen werden. Ruhe in Frieden, Joey!

Markus: Als er dieses Jahr gestorben ist, hat dich das persönlich getroffen?
Alex: Ich kannte ihn nicht persönlich, also war es nicht persönlich in diesem Sinne. Aber es hat mich auf jeden Fall berührt, ja. Es ist immer schockierend, wenn jemand, zu dem man wirklich aufschaut, egal zu welchem Zeitpunkt im Leben, stirbt. Vor allem, wenn sie so jung waren wie er. 44, glaube ich. Es war wirklich ein verheerender Verlust, sowohl für die Schlagzeugwelt als auch für die Metal-Welt. Er mag weg sein, aber er wird sicherlich nicht vergessen werden. Ruhe in Frieden, Joey! <3

Fitnesstipps für Schlagzeuger

Markus: Wer einmal ein Playthrough-Video eines Schlagzeugers gesehen hat, weiß, wie anstrengend es ist, Schlagzeuger zu sein. Wie hält man sich in Form?
Alex: Der beste Weg, um für das Schlagzeug in Form zu bleiben, ist einfach, regelmäßig Schlagzeug zu spielen. Super regelmäßig. Man muss sich dafür konditionieren – besonders in diesem Musikgenre. Man kann nicht einfach eine lange Pause einlegen und wieder einsteigen, ohne etwas zu tun. Außerdem versuche ich, in relativ guter Form zu bleiben – ich trainiere, hebe Gewichte und mache viel Ausdauertraining. All das hilft bis zu einem gewissen Grad.
Ich war nie zu sehr auf das Gewichtheben fixiert – ich versuche nicht, ein Bodybuilder oder so etwas zu werden, haha. Aber es macht mir Spaß, und es hilft sicherlich. Das macht auch Sinn – ein Schlagzeug ist ein sehr körperbetontes Instrument. Wenn dein Körper insgesamt in einem gesunden Zustand ist, kann das nur helfen!

Markus: Danke für das Interview. Die letzten Worte gehören dir.
Alex: Auch dir danke ich! Es war mir ein Vergnügen. Ich hoffe, dass jeder, der dies liest, Kin bei seiner Veröffentlichung anhören wird, und ich hoffe, euch bald auf Tour zu sehen!

Foto Credit Beitragsbild: Alex Morgan


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